„Die Frauen und Männer des Deutschen Widerstandes mahnen uns zur Selbst-prüfung.“

Michael Müller

„Die Frauen und Männer des Deutschen Widerstandes mahnen uns zur Selbstprüfung.“

Grußwort des Vizepräsidenten des Bundesrates und Regierenden Bürgermeisters von Berlin Michael Müller am 20. Juli 2017 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin



Der Ort, an dem wir heute zusammengekommen sind, steht in besonderer Weise für die Grausamkeit des Nazi-Regimes. Zugleich ist Plötzensee auch der Ort, an dem wir jener Männer und Frauen gedenken, die entschlossen und unbeugsam Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben und dafür brutal ermordet wurden.

Es waren Frauen wie Liselotte Herrmann, die Pläne über die geheime deutsche Aufrüstung an die KPD weitergab und dafür am 20. Juni 1938 – drei Tage vor ihrem

29. Geburtstag – in Plötzensee ermordet wurde. Oder Männer wie der Theologe und Staatswissenschaftler Hermann Stöhr, der sich gegen die offizielle Kirchenpolitik wandte und für praktische Solidarität mit politisch Verfolgten und Juden eintrat. Hermann Stöhr verweigerte den Kriegsdienst und wurde dafür am 21. Juni 1940 in Plötzensee ermordet.

2.891 Menschen wurden in Plötzensee Opfer der verbrecherischen NS-Justiz – rund die Hälfte der Opfer stammte aus dem Ausland. Es waren Menschen, die als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden waren. Sie stammten aus allen Teilen des deutsch besetzten Europa. Die meisten Todesurteile wurden gegen Tschechen, Franzosen und Polen vollstreckt.

Wer heute die Gedenkstätte Plötzensee besucht, der erfährt viel über die unterschiedlichen Strömungen des Widerstandes gegen Hitler. Es waren Mitglieder der Europäischen Union um Robert Havemann und Georg Groscurth, der Roten Kapelle um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen, des Kreisauer Kreises mit Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg und der mit ihm verbundenen Verschwörergruppe des 20. Juli um Claus Schenk Graf von Stauffenberg .

Allein 89 Frauen und Männer des 20. Juli wurden hier ermordet. Sie wurden Opfer einer besonders grausamen Rache des Nazi-Regimes. Wie Vieh an Fleischerhaken aufgehängt wurde ihr Todeskampf gefilmt, die Aufnahmen direkt ans Führerhauptquartier weitergeleitet.

Nichts sollte mehr an sie erinnern. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Werner von Haeften , Albrecht Mertz von Quirnheim Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Friedrich Olbricht wurden noch in der Nacht des 20. Juli 1944 im Bendlerblock erschossen und dann eilig verscharrt. Ihre Leichen auf Geheiß Himmlers wieder ausgegraben, verbrannt und über den Berliner Rieselfeldern verstreut. Himmler hatte ursprünglich auch geplant, die Familien der Verschwörer umzubringen. Ihre Namen sollten für immer ausgelöscht werden.

Die Verschwörung gegen Hitler scheiterte. Und doch sind die tapferen Männer und Frauen des Widerstandes nicht vergessen. Aber ihr Gedenken war lange Zeit schwierig. Die alliierten Siegermächte verkannten die Dimension des Widerstandes gegen Hitler. In Westdeutschland setzte sich nur langsam ein Gedenken durch, das die historische Leistung des Deutschen Widerstandes würdigte. Während der nichtkommunistische Widerstand gegen Hitler in der DDR zunächst als „reaktionär“ diskriminiert und erst sehr spät in einem gerechteren Licht gesehen wurde.

Die Erfahrung der Friedlichen Revolution in der DDR rückte auch den Widerstand gegen Hitler in ein neues Licht. Viele Menschen, die im Herbst 1989 gegen Diktatur und Unterdrückung auf die Straße gegangen waren, hatten selbst erlebt, was es bedeutet, sich mit großem persönlichen Mut gegen ein Unrechtsregime zu stellen.

Und doch bleibt das Gedenken des Deutschen Widerstandes eine Herausforderung:

So singulär die Verbrechen Nazi-Deutschlands waren, so unvergleichbar ist auch die Situation der Menschen, die sich zum Widerstand entschlossen. Dass Männer und Frauen in Angesicht von Völkermord und Barbarei nicht die Augen verschließen, sondern ihr Gewissen befragen und daraus eine Pflicht zum Widerstand auf jede Gefahr hin ableiten: Das wirkt fremd für junge Menschen, die das Glück haben, in Frieden und Freiheit aufzuwachsen.

Henning von Tresckows berühmter Satz: „Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben“: Er lässt sich schwer in unsere heutige Welt übertragen. Doch entfaltet er eine große Kraft, wenn man weiß: Tresckow richtete ihn am 21. Juli 1944 an seinen Mitverschwörer Fabian von Schlabrendorff – unmittelbar vor seinem Freitod, zu dem er sich in auswegloser Situation entschloss.

Ja, der Widerstand gegen Hitler erwuchs aus einer unvergleichlichen moralischen und politischen Zwangslage. Aber das können wir heute nur feststellen, weil der Nationalsozialismus und seine zutiefst menschenverachtende Ideologie untergingen. Und wir in Frieden und Freiheit leben.

Nicht die Barbarei hat am Ende gesiegt, sondern die zutiefst humanen Werte des Deutschen Widerstandes – auch wenn viele tapfere Männer und Frauen dafür ihr Leben lassen mussten. Wofür sie damals eintraten und ihr Leben ließen, ist heute ein Fundament unserer freiheitlichen, demokratischen Ordnung, zu der wir uns bekennen und die wir heute wieder gegen vielerlei Anfechtungen verteidigen müssen.

Die Frauen und Männer des Deutschen Widerstandes mahnen uns zur Selbstprüfung. Wir sind aufgefordert, uns zu den Grundsätzen von Demokratie und pluraler Gesellschaftsordnung zu bekennen und danach zu handeln. Und das heißt: jenen entschlossen entgegentreten, die Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit propagieren.

Dass wir alle in diesem Sinne in der Verantwortung stehen, darin liegt das Vermächtnis des Deutschen Widerstands.

Wir verneigen uns vor den aufrechten Männern und Frauen, die sich der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft widersetzt haben.






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