Hingabe - Verrat - Gewissen

Pater Klaus Mertes SJ


Rede beim Feierlichen Gelöbnis der Bundeswehr am 20. Juli 2018 auf dem Paradeplatz des Bundesministeriums der Verteidigung


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Hingabe ist ein großes Wort. Große Worte sind am Gedenktag des 20. Juli 1944 angebracht. Die Männer und Frauen des Widerstandes „gaben ihr Leben dahin, sie opferten ihr Leben im Widerstand gegen Unrecht, Diktatur und Verbrechen.“ Das stimmt. Aber große Worte können auch dazu führen, Entscheidendes zu übersehen. Mir sind da Sätze wie die der 18-jährigen Liane Berkowitz im Ohr: Sie wurde im August 1943 in Plötzensee hingerichtet. Im Mai 1942 hatte sie von Harald Schulze-Boysen, einem führenden Kopf der Roten Kapelle, hundert Klebezettel erhalten. Diese verteilte sie in der Gegend zwischen dem Kurfürstendamm und der Uhlandstraße. Gemeinsam mit einem Freund wurde sie festgenommen und zum Tode verurteilt. Im Frauengefängnis Barnimstraße brachte sie ihre Tochter Irena zur Welt. Vor ihrer Hinrichtung schrieb sie: „Wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben. Mir scheint alles nur ein schlechter Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen muss.“ Die kleine Irena wurde von der Großmutter betreut und fiel einige Monate später vermutlich einer NS-Krankenmordaktion im Krankenhaus Eberswalde zum Opfer


Ich spreche also zunächst lieber von „weggenommenem“ als von  „hingegebenem“ Leben. In welchem Sinne könnte man überhaupt sein Leben aus eigener Entscheidung heraus hingeben? Die Formulierung darf jedenfalls die Mörder nicht von ihrer Verantwortung entlasten. Was die Männer und Frauen des Widerstandes freiwillig taten, das war, sich zu einer Tat des Widerstandes zu entscheiden. Dass sie dabei Risiken bis hin zum Lebensrisiko eingingen, war den allermeisten bewusst. Aber die Verantwortung für Hinrichtung und Mord tragen diejenigen, die sie zum Tode verurteilten und ermordeten. Die Taten der Hingerichteten waren Bekenntnisse zum Leben, nicht zum Tod. Es war nichts todessehnsüchtiges, nichts Suizidales an ihnen – nicht einmal bei denen, die Suizid begingen, um sicher zu gehen, dass sie ihre Freunde und Mitverschwörer nicht unter der Folter verraten. Es gibt im Angesicht des Todes ein zweites Ja zur Widerstandstat, das noch schwerer ist als das erste Ja.


Sie legen heute ein Gelöbnis ab. Der Soldatenberuf ist ein Beruf, der den Lebenseinsatz potentiell immer im Blick haben muss. Was das im Ernstfall konkret bedeutet, können Sie jetzt noch gar nicht wissen. Sie brauchen es auch nicht. Es reicht zunächst, wenn Sie Ihr Gelöbnis im Alltag mit den kleineren Taten des Widerstandes einlösen: Anpassungsdruck widerstehen. Nicht mitmachen bei demütigenden Späßen und Initiationsritualen. Angst überwinden und Widerspruch riskieren. Verantwortung übernehmen.


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„Man kann nun sagen, dass ich Landesverräter bin, aber das bin ich in Wirklichkeit nicht“,
schrieb der Offizier Hans Oster vor seiner Hinrichtung am 21. Juli 1944. Er arbeitete seit Anfang 1935 beim militärischen Nachrichtendienst und wandte sich schon früh gegen die nationalsozialistische Diktatur. Bereits 1940 verriet er dem niederländischen Militärattaché in Berlin den geplanten Überfall deutscher Truppen auf die Niederlande.


In Osters Satz taucht das Verräter-Motiv auf. Es gibt vermutlich keinen Widerstand, der nicht den Preis des Verräter-Vorwurfs kostet. Das Verräter-Stigma klebte im Übrigen auch nach 1945 noch viele und schwere Jahre lang an den Überlebenden einschließlich ihrer Familien. Der Vorsitzende des nach dem Krieg neu gegründeten Verbandes deutscher Soldaten in Bayern erklärte im Oktober 1951, dass für Widerstandskämpfer in einer neuen deutschen Armee kein Platz sei: „Wir meinen, dass ihre Rückkehr sich in einer Gefährdung des soldatischen Geistes … auswirken muss und wird.“ Im Osten Deutschland verhielt es sich unter veränderten ideologischen Prämissen nicht viel anders.


Ich sehe zwei besonders harte Loyalitätskonflikte, in denen die Widerstandskämpfer standen: Die Loyalität gegenüber der eigenen Familie und die Loyalität gegenüber dem eigenen Volk. Die Widerstandskämpfer wussten, dass sie ihre eigenen Familien in Mitleidenschaft ziehen, möglicherweise in Sippenhaft. So geschah es in vielen Fällen dann auch. Manche konnten sich auf die selbstlose Zustimmung ihrer Ehepartner, ihrer Eltern oder ihrer Söhne und Töchter verlassen. Manche nicht – und wurden in ihren Familien und Freundeskreisen zu Einsamen, zu Verstoßenen.


Und dann die Loyalität zum eigenen Volk – das Wort „Volk“ kommt heute in Ihrem Gelöbnis vor. Die Widerstandskämpfer legten Wert darauf, dass sie gerade keine Volksverräter waren. Hans Oster schrieb: „Ich halte mich für einen besseren Deutschen als alle die, die hinter Hitler herlaufen.“ Sie verstanden sich als Repräsentanten eines anderen Deutschland, ein Deutschland, das seine ethischen Grundlagen gerade nicht in einer kulturell geprägten Identität findet, sondern in einer ethischen Ordnung, die alle Völker und Kulturen umgreift. Heute wird das Wort „Volksverräter“ wieder leichtfertig in den Mund genommen. Es ist ein empörender Skandal, dass die neuen Lautsprecher völkischen Denkens in Deutschland heute ausgerechnet den Widerstand für sich vereinnahmen. Das soll und muss ihnen verwehrt werden.


Der heutige Gedenktag erinnert Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, nämlich vielmehr daran, dass Ihre Loyalitätspflicht gegenüber Befehlen da endet, wo von Ihnen verlangt wird, verbrecherischen Befehlen zu folgen, auch dann, wenn diese „im Namen des Volkes“ an Sie ergehen.


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Aber wann und wie erkennen Sie, dass ein Befehl wirklich verbrecherisch ist? Verbrecherische Befehle tarnen sich immer mit der Sprache das Rechts. Das gehörte ja zum höllischen Spiel auch der Nazis.

Oft werden die Männer und Frauen des Widerstandes wegen ihrer Überzeugungstreue gepriesen. Sicherlich. Doch die entscheidende Frage lautet: Welcher Überzeugung blieben sie treu? Manche fanden den Weg in den Widerstand nur, weil sie Überzeugungen veränderten, Prioritäten neu setzten. Manchen mussten sogar alte Überzeugungen ablegen, biblisch gesprochen: Bereuen und umkehren. Sie ließen sich auf quälende Gewissenskonflikte ein. Sich auf das eigene Gewissen zu beziehen bedeutet eben nicht, einfach nur selbstsicher und unangefochten zu sein, sondern gerade auch, sich auf innere Verunsicherungen einzulassen.


Viele von ihnen machten dann die Erfahrung, dass sie im Widerstand auf Menschen trafen, die Überzeugungen hatten, die sie vorher zurückgewiesen oder sogar bekämpft hatten: Es kamen zusammen: Gläubige und Atheisten, Protestanten, Katholiken, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, preußische Junker, Nationalliberale, Zeugen Jehovas und viele andere. Sie saßen gemeinsam in Gefängnissen und Todeszellen. Sie entdeckten die Überzeugung der Anderen, sie entdeckten eigene Borniertheiten, sie entdeckten durch die Verunsicherung ihres eigenen Schwarz-Weiß-Denkens hindurch das Gemeinsame mit den Anderen. Der Blick auf die Männer und Frauen des Widerstandes ist der Blick auf ein Geschenk, eine Chance, das zu erkennen, was Menschen noch mehr vereint als das, was sie – auch legitimer weise – trennt.


Sie legen heute ein Gelöbnis ab. Aber Sie geben Ihr Gewissen nicht ab. Das Gegenteil wird von Ihnen erwartet: Dass sie es ernstnehmen und täglich im Alltag schärfen. Wie das Gewissensurteil im konkreten Fall zu bestimmen ist, werden Sie hoffentlich niemals in so tiefer Dramatik durchleben müssen wie die Ermordeten und Überlebenden des Widerstandes. Sollten Sie dies eines Tages doch erleben müssen, so wünsche ich Ihnen schon jetzt von ganzem Herzen ein klaren Verstand, gute Freunde und einen Glauben in dunkelsten Stunden, den man nur als Geschenk empfangen kann.