Unsere rechtsstaatlichen Errungenschaften in Gegenwart und Zukunft bewahren

Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück 


Rede beim Empfang der Angehörigen am 19. Juli 2018 im Roten Rathaus in Berlin


Zunächst danke ich Ihnen, lieber Herr Müller für Ihre Worte und ebenso, dass Sie sich die Zeit nehmen und uns hier – einer langen, mittlerweile 66 jährigen Tradition folgend – auch in diesem Jahr in Ihrer guten Stube hier im Roten Rathaus empfangen.


Dieser Empfang erfreut sich unter den – wie Sie sehen – zahlreich erschienenen 250 Angehörigen größter Beliebtheit. Stellvertretend für alle Angehörigen darf ich Sie, liebe Frau von Maltzahn begrüßen und gleichzeitig die jüngste Angehörige, nämlich Ida Smend *25.06.2017 (Tochter von Simon Smend, Sohn von Rolf Smend). Ebenfalls ein herzlicher Gruß an die Schüler der Klosterschule Roßleben aus Thüringen und der Max-Ulrich-von-Drechsel-Schule aus Bayern.


Dieses Jahr liegt der Umsturzversuch des 20. Juli 74 Jahre zurück. Aber auch in diesem Jahr begehen wir ein rundes Jubiläum. Am 20. Juli 1968 wurde die ständige Ausstellung in den drei historischen Räumen der zweiten Etage der Gedenkstätte Deutscher Widerstand eröffnet. Damit bin ich bei Prof. Tuchel, und Prof. Steinbach sowie dem ganzen Team der GDW, die für Berlin und Deutschland unschätzbare Erinnerungsarbeit leisten. Rechtsstaat und Demokratie, die wir lange für so selbstverständlich gehalten haben, sind keineswegs unangefochten, wie wir im Ausland um uns herum sehen, aber auch hier in Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist das Erinnern und Gedenken kein bloßer Selbstzweck, sondern vielleicht wichtiger denn je, um unsere rechtsstaatlichen Errungenschaften in Gegenwart und Zukunft zu bewahren. Hier bleibt eine wichtige Aufgabe auch für die Stiftung. Nur beispielhaft erwähne ich, dass drei Angehörige, nämlich Christina Rahtgens, Carolin Sadrozinski und Friederike Roll spontan am vergangenen Sonntag die Initiative ergriffen haben für einen Aufruf der Angehörigen des Widerstands für Europa, für Humanität und gegen Populismus. Dem haben sich weit über 200 Angehörige angeschlossen und er wird morgen im Tagesspiegel erscheinen.


Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang unsere gemeinsame große Veranstaltung am 2. Juni im Berliner Dom ansprechen. Der Abend war dem deutschen Widerstand in seiner ganzen Bandbreite gewidmet, natürlich hier in Berlin, der Hauptstadt des Widerstands. Bei der Lesung von Briefen, Tagebucheinträge u.a. kamen die unterschiedlichsten Menschen zu Wort, von dem konservativen Diplomaten Ulrich von Hassell bis hin zu Herbert Baum, der eine Gruppe junger Kommunistinnen und Kommunisten meist jüdischer Herkunft ins Leben rief.


Um uns allen einen Eindruck von der Stärke dieser Texte zu geben, lassen Sie mich einen ausschnittsweise zitieren, nämlich aus dem Tagebucheintrag von Ruth Andreas-Friedrich, der sicher nicht nur mir unter die Haut gegangen ist. Es ist der Eintrag vom 10. November 1938, der Pogromnacht:


Berlin, Donnerstag, 10. November 1938


 Um sieben Uhr früh läutet es. Achtmal – neunmal – zehnmal hintereinander. Als schlüge jemand auf dem Klingelknopf einen Trommelsturm. Vor der Tür steht Dr. Weißmann, der Rechtsanwalt. „Verstecken Sie mich, sie sind hinter mir her!“ keucht er. Ich starre ihn an. „Wer? Was? Ich verstehe nicht.“


(…)


„Der Teufel geht um in Berlin! Die Synagogen brennen. Das Judenblut spritzt vom Messer.“


(…)


Um halb zehn fahre ich in die Redaktion. Der Omnibusschaffner sieht mich an, als wolle er mir etwas Wichtiges mitteilen. Aber dann schüttelt er nur den Kopf und schaut schuldbewusst zur Seite. Die Mitfahrenden blicken überhaupt nicht auf. Jeder mach ein Gesicht, als bäte er irgendwie um Verzeihung. Der Kurfürstendamm ist ein einziges Scherbenmeer. An der Ecke Fasanenstraße stauen sich die Menschen. Eine stumme Masse, die betreten in Richtung der Synagoge starrt, deren Kuppel von Rauchwolken verhüllt ist. „Verfluchte Schande!“ flüstert neben mir ein Mann. Ich sehe ihn liebevoll an. Jetzt wäre es eigentlich Zeit, zu seinem Nächsten „Bruder“ zu sagen, fällt mir ein. Aber ich tue es nicht. Man tut so etwas niemals. Man denkt es sich bloß. Und wenn man wirklich mal den Mut fasst und einen Anlauf nimmt, dann fragt man zu guter Letzt doch nur: „Ach, entschuldigen Sie, können Sie mir nicht sagen, wie spät es ist?“ Und schämt sich grenzenlos, weil man so feige war. Dennoch fühlen wir uns alle als Brüder. Wir, die wir hier sitzen, im Omnibus fahren und vor Scham fast vergehen. Brüder der Scham. Genossen der gleichen Zerknirschtheit. Wenn sich aber alle schämen, wer hat denn dann die Scheiben eingeschlagen? Du warst es nicht, ich war es nicht. Wie heißt denn der X, der Unbekannte?


Mit diesem - wie den anderen Texten aus dieser Veranstaltung – wird der zeitgeschichtliche Hintergrund für jeden greifbar, wie auch das Erleben derjenigen, die sich in den aktiven Widerstand begaben. Solche Texte regen jeden von uns aber auch an, unser heutiges Verhalten in der einen oder anderen Situation zu hinterfragen. Die Karten für den Abend waren sofort ausverkauft, 1.400 Menschen waren im Dom. Die Veranstaltung im Dom wird heute Abend im Bayerischen Rundfunk, Bayern 2 extra ab 20 Uhr ausgestrahlt und kann danach in der Mediathek des BR abgerufen werden.


Wir danken Elisabeth Ruge und Rüdiger von Voss von Seiten der Stiftung wie  Prof. Tuchel, Frau Stiepani und Prof. Steinbach auf Seiten der GDW. Ohne den großen Einsatz von allen wäre dies nicht möglich gewesen.


Ruth Andreas-Friedrich führt uns zu den „Stillen Helden“. Sie zählt zu den Menschen, die während der NS-Diktatur verfolgten Juden halfen sowie Widerstand gegen die Judenverfolgung leisteten. So war das große Ereignis dieses Jahres die Eröffnung der neuen Dauerausstellung am 13. Februar, die Lebensgeschichten dieser „Stillen Helden“ erzählt. Auch hier hat die GDW unter Prof. Tuchel großartige Arbeit geleistet.


Wir danken dem Land Berlin und Ihnen, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, dass der Senat dies alles mit ermöglicht. Wir danken Ihnen auch für die fortdauernde und bewährte Unterstützung und Zusammenarbeit. Die Stiftung wird ihren Beitrag zu unserer gemeinsamen Erinnerungsarbeit weiterhin gerne leisten.


 

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