„Von Moskau nach Casablanca“. Hitler-Gegner in Deutschland im Jahr 1942

Rainer A. Blasius
„Von Moskau nach Casablanca“. Hitler-Gegner in Deutschland im Jahr 1942
Festvortrag von Prof. Dr. Rainer A. Blasius am 19. Juli 2017 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin
Die Rede vom 8. Mai ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Je länger das deutsche Volk die Unterstützung und Tolerierung eines Regimes fortsetzt, das es in die Zerstörung führt, desto schwerer wiegt seine eigene direkte Verantwortung für den der Welt zugefügten Schaden. Wenn irgendeine Gruppe im deutschen Volk wirklich zu einem Staatswesen zurückkehren möchte, das auf der Achtung vor dem Gesetz und den Rechten des Einzelnen gegründet ist, dann muss sie verstehen, dass niemand ihr glauben wird, bis sie aktive Schritte unternommen hat, um sich vom derzeitigen Regime zu befreien.“ Wer jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, einen Augenblick lang oder mehr geglaubt hat, ich würde aus Richard von Weizsäckers großer Ansprache vor dem Bundestag aus Anlass des vierzigsten Jahrestages des Kriegsendes zitieren, ohne sich dann an die eben erwähnte Stelle erinnern zu können, den darf ich beruhigen oder enttäuschen! Das Eingangszitat ist einer Ansprache entnommen, die der britische Außenminister Anthony Eden – auf den Tag genau drei Jahre vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches sowie exakt 43 Jahre vor Weizsäckers Verkündung der (im Jahr 1985 noch als sensationell empfundenen) gesamtdeutschen Konsensformel vom „Tag der Befreiung“ – am 8. Mai 1942 in Edinburgh hielt.
Die von Eden in die Deutschen gesetzte Erwartung auf eine Selbstbefreiung lenkt am heutigen Vorabend des 20. Juli unsere Aufmerksamkeit auf jene Hitler-Gegner, die vor 75 Jahren den Mut und die Kraft aufbrachten, sich gegen das NS-Regime und die NS-Volksgemeinschaft zu stellen. Ihrem Andenken dient eine Reise in die dunkelste Vergangenheit, die mit der militärischen Wende vor Moskau einsetzt, als das auf den Winterkrieg völlig unvorbereitete deutsche Ost-Heer 30 Kilometer von der sowjetischen Hauptstadt entfernt am 5. Dezember 1941 in eine schwere Krise geriet; zwei Tage später fand der japanische Angriff auf die amerikanische Pazifik-Flotte in Pearl Harbor statt, dem das „Dritte Reich“ und das faschistische Italien ihre Kriegserklärungen an die Vereinigten Staaten folgen ließen. Casablanca bildet den „Zielort“, weil dort am 24. Januar 1943 der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt die vom britischen Premierminister Winston Churchill mitgetragene Forderung nach „bedingungsloser Kapitulation“ Deutschlands, Italiens und Japans erhob, während der in Marokko abwesende sowjetische Generalissimus Josef Stalin am 2. Februar die Schlacht um Stalingrad zu seinen Gunsten entschied.
Sechs verschiedene Gruppierungen/Organisationen/Netzwerke in Deutschland während jener Phase werden zunächst in einem Überblick gewürdigt: (1) hohe Militärs, (2) die Herbert-Baum-Gruppe, (3) die Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe, (4) die Scholl/Schmorell-Gruppe, (5) die Moltke/Yorck-Gruppe und (6) Emissäre zur Konspiration mit dem Ausland – wie der in Amt-Abwehr-Diensten stehende Dietrich Bonhoeffer, der hier in der St. Matthäus-Kirche 1931 als Pfarrer der Evangelischen Kirche ordiniert wurde. Anschließend werden Vorstellungen und Wünsche einzelner Gruppen mit der britischen Deutschland-Planung kontrastiert und nach den Gründen für die Verschärfung der alliierten politischen Kriegführung, die dann unter anderem in der Casablanca-Formel kulminierte, gefragt.
I. Aktionen gegen Hitlers Gewaltherrschaft
Was die hohen Militärs im „Dritten Reich“ betraf, so hoffte die britische Regierung nach Kriegsbeginn viele Monate auf die deutsche Generalität und auf einen Frieden ohne Waffengang. Generalstabschef Franz Halder ließ im Herbst 1939 durch den Abwehroffizier Helmuth Groscurth die Umsturzpläne vom Spätsommer 1938 rekonstruieren, weil die Generalskameraden dem Gedanken eines Westfeldzuges fast ausnahmslos ablehnend gegenüberstanden. Als Hitler Mitte November 1939 jedoch gegen den defätistischen „Geist von Zossen“ wütete, glaubte Halder die Staatsstreichplanung verraten und blies die Aktion ab. „Der Vorwurf der Feigheit hat die Mutigen wieder feige gemacht“, meinte daraufhin der Leiter der Zentralabteilung der Abwehr, Oberst Hans Oster – zumal bereits die symptomatische Äußerung des Heeres-Oberbefehlshabers Walther von Brauchitsch kursierte: „Ich tue nichts, aber ich werde mich auch nicht dagegen wehren, wenn es ein anderer tut.“
Mit dem von der Wehrmachtgeneralität unerwartet schnellen Sieg über Frankreich galt Hitler nicht nur in der Goebbels-Propaganda als „größer Feldherr aller Zeiten“. Es sahen vielmehr die meisten Heerführer den am 22. Juni 1941 beginnenden Ostfeldzug als Kinderspiel an. Halder ging Anfang Juli davon aus, dass der Feldzug gegen die Sowjetunion innerhalb von 14 Tagen gewonnen werden könnte. Anfang Dezember 1941 war Hitlers großer „Weltkriegsblitzplan“ allerdings definitiv gescheitert. Am 19. Dezember erfolgte die Ablösung Brauchitschs; den Oberbefehl über das Heer übernahm Hitler selbst, während Halder im Amt blieb, angeblich weil Brauchitsch ihn darum gebeten haben soll. Hitlers Durchhalte-Befehle in auswegloser Lage wurden nicht immer befolgt: zwei Dutzend Oberbefehlshaber und Kommandeure wurden abgelöst oder versetzt oder auch hart bestraft.
Die „Generals-Krise“ war rasch überwunden, weil es der Wehrmacht gelang, die Ostfront zu halten. Einige Offiziere an der Westfront planten in den ersten Wochen des Jahres 1942 auf Initiative von Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben ein Attentat auf Hitler während einer Parade im besetzten Paris, was jedoch Halder ablehnte. Der Generalstabschef blieb im Banne Hitlers. Bezeichnenderweise antwortete der Major Claus Schenk Graf von Stauffenberg – Gruppenleiter im Generalstab – im April 1942 auf die Frage eines Besuchers, wer von den höheren Militärs denn für den Kampf gegen Hitlers Kriegspolitik zu gewinnen sei: „Halder denkt nur militärisch und hat immer nur militärisch gedacht. Nein, keine Illusionen. Unsere Verbündeten sind nicht Halder und Keitel, sondern die militärische Notlage und Rückschläge, die vielleicht der Vernunft dienlich sind. [...] Bevor es zu spät ist.“
Eine andere Auffassung von der Bedeutung des Zusammenhangs von Umsturz und Kriegslage vertrat der frühere Botschafter in Rom und nationalkonservative Hitler-Gegner Ulrich von Hassell. Für ihn kam es darauf an, den Generälen „die Augen zu öffnen und die Eilbedürftigkeit begreiflich zu machen“; jede Chance, durch Verhandeln zu einem vernünftigen Frieden zu kommen, sei zum Teufel, „wenn die Gegenseite den Sieg vor Augen hat“. Als Hitlers Sommeroffensive Ende September ins Stocken geriet, diagnostizierte Hassell hellsichtig: „Stalingrad fängt an, eine Rolle wie Verdun zu spielen.“ Am 24. September wurde Halder abgelöst – Versetzung in die „Führerreserve“. Es war der 460. Tag des Russland-Feldzuges, über den der Generalstabschef in seinem Tagebuch festhielt: „Verabschiedung durch den Führer (meine Nerven verbraucht, auch seine Nerven nicht mehr frisch).“ Hitler hob die „Notwendigkeit der Erziehung des Generalstabs im fanatischen Glauben an die Idee“ hervor, neben der „Entschlossenheit, auch im Heer seinen Willen restlos durchzusetzen.“ Halder behauptete rückblickend, seine Entlassung provoziert zu haben durch kritische Einwände gegen Hitlers Operationsführung, was unter Zeithistorikern umstritten ist. Im November 1942 konnten britische Truppen Tobruk zurückerobern, eine amerikanisch-britische Invasionsarmee in Französisch-Nordafrika (Marokko, Algerien) landen und Stalin nördlich und südlich von Stalingrad zwei Großoffensiven, die zur Einschließung der dort kämpfenden deutschen und rumänischen Verbände führten, einleiten – ohne dass es auch nur im Ansatz zu Staatsstreichplanungen deutscher Militärs kommen sollte.
Eine spektakuläre Aktion gegen das „Dritte Reich“ unternahm im Jahr 1942 die Hermann-Baum-Gruppe, die aus zwangsverpflichteten, meist jüdischen jungen Arbeitern bestand und sich mit der hektographierten Schrift „Der Ausweg“ an die Soldaten an der Ostfront wandte. Herbert Baum war gelernter Elektriker, sein Freund Martin Kochmann ausgebildeter Kaufmann; sie wurden unterstützt von ihren Ehefrauen Marianne und Sala. Zehn Tage nach der am 8. Mai 1942 erfolgten Eröffnung der Ausstellung „Das Sowjetparadies“ unternahmen Baum und seine Freunde einen (elf Verletzte und verhältnismäßig wenig Schäden verursachenden) Brandanschlag auf jene primitive Schau, die im Zeichen des „Kampfes gegen den Bolschewismus“ rassistische, kulturelle und politische Vorurteile bediente. Die Gruppe wurde danach an die Gestapo verraten; 30 Personen wurden verhaftet und vor den „Volksgerichtshof“ gestellt, 15 von ihnen hingerichtet. Allerdings machte der Anschlag auf die NS-Führung einen nachhaltigen Eindruck. Unter den ersten Verhafteten befanden sich, wie der Reichspropagandaminister und Gauleiter von Berlin Joseph Goebbels am 24. Mai in seinem Tagebuch festhielt, „bezeichnenderweise […] fünf Juden, drei Halbjuden und vier Arier“. Nun müsse dafür gesorgt werden, „dass die noch in Berlin vorhandenen 40.000 Juden, die in Wirklichkeit freigelassene Schwerverbrecher darstellen, die nichts mehr zu verlieren haben, auf das schnellste entweder konzentriert oder evakuiert werden. Am besten wäre selbstverständlich Liquidierung.“ Herbert Baum beging Selbstmord nach Folterungen durch die Gestapo. Die NS-Führung veranlasste, dass 250 jüdische Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen zur „Vergeltung“ erschossen und „gleichzeitig weitere 250 Juden aus Berlin verhaftet und als Geiseln dorthin verbracht wurden“ (so Richard J. Evans). Hitler erklärte Ende Mai im Gespräch mit Goebbels, bisherige Einwände gegen eine Deportation jüdischer Zwangsarbeiter aus Berlin seien zurückzustellen und diese durch Fremdarbeiter zu ersetzen. Der Nachruhm der Herbert-Baum-Gruppe sollte – im Vergleich zur Scholl/Schmorell-Gruppe – gering bleiben, obwohl es beiden in einem entscheidenden Punkt um dasselbe ging: „um die Überwindung eines verbrecherischen Systems, das die Welt mit Krieg überzog im Namen einer Ideologie, die Rassenhass und Herrenmenschentum zum Dogma erhob“ (so Wolfgang Benz).
Die größte und vielfältigste Verbindung von Regime-Gegnern, die 1942 durch die Gestapo zerschlagen werden konnte, war die Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe und hieß in der Sprache ihrer Verfolger „Rote Kapelle“. Der merkwürdige Name ging auf die deutsche Abwehr im besetzten Belgien zurück, die sich auf der Spur eines weitverzweigten Spionage-Rings wähnte: ein „Konzert“ der von Moskau aus dirigierten Funkstellen mit „Pianisten“ in ganz Westeuropa. Dagegen verband in Deutschland die etwa 150 Menschen unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Herkunft – Beamte, Offiziere, Künstler und Wissenschaftler mit einem hohen Anteil an willensstarken Frauen – vor allem die strikte Ablehnung des Nationalsozialismus und oft auch große Distanz zum Stalinismus.
Den „Kopf“ der Gruppe bildete Arvid Harnack, Sohn eines Literaturprofessors und Neffe des berühmten Theologen Adolf von Harnack. Der doppelt promovierte Oberregierungsrat arbeitete im Reichswirtschaftsministerium. Er hatte in den 1920er Jahren an der Universität Wisconsin studiert und dort seine spätere Frau, die Amerikanerin Mildred Fish kennengelernt, aber auch die deutsche Studentin Greta Lorke, die 1937 den Schriftsteller Adam Kuckhoff heiratete. Die Kuckhoffs waren seit Mitte der 1930er Jahre mit Harro Schulze-Boysen befreundet, dem „Motor“ der Gruppe. Der Großneffe des kaiserlichen Großadmirals Alfred von Tirpitz hatte sein Jurastudium nicht abgeschlossen und sich am Ende der Weimarer Republik publizistisch für die Einführung der Planwirtschaft engagiert. Nach Hitlers Machtantritt besetzten 1933 SA-Leute die Redaktion der von Schulze-Boysen verantworteten Zeitschrift „Gegner“. Er und sein jüdischer Mitarbeiter Henry Erlanger mussten sich auspeitschen lassen. Erlanger überlebte diese Tortur nicht, während Schulze-Boysen durch eine Intervention seiner beherzten Mutter beim Berliner Polizeipräsidenten Magnus von Levetzow, einem früheren Admiral, gerettet wurde. Im Mai 1933 konnte Schulze-Boysen eine fliegerische Ausbildung beginnen, durch die er 1934 eine Anstellung in der Abteilung „Fremde Luftmächte“ des Reichsluftfahrtministeriums fand. Seine Ehefrau war Libertas Haas-Heye, die Enkelin des skandalumwitterten Fürsten Philipp zu Eulenburg. Sie verfasste Filmkritiken und war von 1941 an bei der Deutschen Kulturfilmzentrale im Propagandaministerium beschäftigt. Die Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe formierte sich lange vor Hitlers Russland-Feldzug, um gegen das „Dritte Reich“ zu agitieren, dessen verbrecherischen Charakter in Flugblättern herauszustellen, Eingekerkerten und Verfolgten zu helfen sowie Sabotage zu betreiben. Mitte Januar 1941 erfuhr Harnack über Schulze-Boysen von Vorbereitungen des Angriffs auf die Sowjetunion und gab diese Informationen nach Moskau weiter. In gemeinsame Aktivitäten bezogen Schulze-Boysen und Harnack, der zuvor „Geheime Reichssachen“ den Vereinigten Staaten preisgegeben hatte, ihre Ehefrauen ein, auch als Kuriere.
In der Flugschrift „Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk“ setzte sich Schulze-Boysen im Winter 1941/42 unter dem Eindruck der militärischen Wende vor Moskau mit der angeblichen „Unfehlbarkeit des Führers“ und den Lügen der Goebbels-Propaganda auseinander: „Der Endsieg des nationalsozialistischen Deutschland ist nicht mehr möglich. Jeder kriegsverlängernde Tag bringt nur neue unsagbare Leiden und Opfer. Jeder weitere Kriegstag vergrößert nur die Zeche, die am Ende von Allen gezahlt werden muss.“ Interessanterweise zitierte Schulze-Boysen aus Hitlers „Mein Kampf“, und zwar eine oft überlesene Passage zur Pflicht auf Rebellion: „In einer Stunde, da ein Volkskörper sichtlich zusammenbricht und allem Anschein nach der schwersten Bedrückung ausgeliefert wird, dank des Handelns einiger Lumpen, bedeuten Gehorsam und Pflichterfüllung diesen gegenüber nur Formalismus und Wahnwitz, wenn andererseits durch Verweigerung von Gehorsam und ‚Pflichterfüllung‘ die Errettung eines Volkes vor seinem Untergang ermöglicht würde.“ Abschließend empfahl Schulze-Boysen seinen Lesern, die SS zu verachten: „Lasst es sie fühlen, dass das Volk Mörder und Spitzel aus tiefster Seele verabscheut!“ Und: „Ihr seid nicht allein! Kämpft zunächst auf eigene Faust, dann gruppenweise. Morgen gehört uns Deutschland!“ Unterzeichnet wurde die Flugschrift mit AGIS, weil Schulze-Boysen „vielleicht an die antike Gestalt des Königs Agis von Sparta“ anzuknüpfen gedachte, „der seine Untertanen von ihrer Schuldenlast befreien und eine Landreform durchführen wollte“ (so Hans Coppi und Johannes Tuchel). Die Flugschrift wurde im Februar 1942 in mehreren hundert Exemplaren an höhere Beamte, Offiziere, NSDAP-Funktionäre, Hochschullehrer und Geistliche versandt.
Eine von Schulze-Boysen initiierte Zettelklebe-Aktion wandte sich auch gegen die bereits erwähnte Propaganda-Ausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten, offensichtlich in Absprache mit der Herbert-Baum-Gruppe. Etwa zwanzig Frauen und Männer klebten in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai Hunderte von Zetteln – „Ständige Ausstellung ‚Das Nazi-Paradies‘: Krieg, Hunger, Lüge, Gestapo. Wie lange noch?“ – an Hauswände und Straßenbäume der Reichshauptstadt. Im Frühjahr/Sommer 1942 sammelte Libertas Schulze-Boysen in der Kulturfilmzentrale Material über Gewaltverbrechen im Ostkrieg, das als Ausgangspunkt für ein Flugblatt diente. Darin schilderten Adam Kuckhoff und John Sieg Verbrechen von SS-Männern an russischen Zivilisten und Kindern; sie appellierten an deutsche Soldaten, „dem Zwang des Gewissens zu folgen, wo es in Konflikt gerät mit einer so offensichtlich bestialischen ‚Pflicht‘, wie es der befohlene Meuchelmord an der Sowjetbevölkerung ist“; die deutschen Soldaten sollen mit russischen Partisanen zusammenarbeiten und zu ihnen überlaufen („Offene Briefe an die Ostfront, 8. Folge, An einen Polizeihauptmann!“).
Schließlich flog die Gruppe wegen der Inkompetenz professioneller Geheimdienstler in Moskau auf, die Namen und Adressen einiger Berliner Mitglieder der Gruppe in einem Funkspruch erwähnten, den die deutsche Abwehr entschlüsselte. Von Ende August 1942 an erfolgten die Festnahmen. Wegen der beschuldigten Offiziere und Beamten meldete die Militärgerichtsbarkeit ihre Zuständigkeit an. Zwischen dem 14. und 19. Dezember fand die erste Prozesswelle statt. Fast alle Angeklagten – darunter der Legationsrat I. Klasse Rudolf von Scheliha und die zeitweilige Wilhelmstraßen-Mitarbeiterin Ilse Stöbe, die von der Gestapo ermittlungstechnisch der „Roten Kapelle“ zugeordnet worden waren (und die das Auswärtige Amt seit 1995 beziehungsweise seit 2014 für ihren „Widerstand gegen die Herrschaft des Nationalsozialismus“ mit einer Nennung auf der AA-Gedenktafel ehrt) – wurden zum Tode verurteilt und am 22. Dezember 1942 in Plötzensee entweder gehängt oder enthauptet. Kurz zuvor hielt Schulze-Boysen auf einem Zettel fest: „Die letzten Argumente/ sind Strang und Fallbeil nicht/ und uns're heut'gen Richter/ sind noch nicht das Weltgericht.“
Ende Dezember 1942 empörte sich Goebbels in seinem Tagebuch über den Major Schulze-Boysen, der es mit seinen „Komplizen“ fertiggebracht habe, „die vertraulichsten und geheimsten Unterlagen der deutschen Kriegführung den Sowjets zur Verfügung zu stellen, und zwar nicht einmal für Geld, sondern aus bloßem Hass gegen den Nationalsozialismus. Wie weit hat sich hier die Voreingenommenheit verirrt, dass sie zum Mittel des krassesten und schimpflichsten Landesverrats greift!“ Für den Reichspropagandaminister stand fest, dass man „hier ein blutiges Exempel statuieren“ müsse, „um ähnlichen Tendenzen einen Riegel vorzuschieben“. Das Reichskriegsgericht verhandelte in der Sache „Rote Kapelle“ noch bis zum 17. Februar 1943 weiter. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen, zwölf zu Zuchthausstrafen und siebzehn zu Gefängnisstrafen verurteilt. Insgesamt wurden 45 Personen hingerichtet, davon 18 Frauen. Auch der Schriftsteller Günther Weisenborn rechnete fest mit der Todesstrafe, wie ein Brief an Ehefrau Joy vom 5. Februar 1943 belegt: „Muss ich sterben, so werde ich tapfer und schweigsam sterben. Es ist Krieg, die einen fallen in Stalingrad, die anderen in Plötzensee.“ Schließlich kam er mit einer Zuchthausstrafe verhältnismäßig glimpflich davon.
Weisenborn und Greta Kuckhoff setzten sich – von der Roten Armee aus der Haft befreit – nach Kriegsende mit anderen Überlebenden nicht nur für die Bewahrung des Andenkens an die Harnack/Schulze-Boysen-Gruppe ein (Weisenborn publizierte 1946 sein damals viel gespieltes Stück „Die Illegalen. Drama aus der deutschen Widerstandsbewegung“, das die Widmung „… niedergeschrieben als Denkmal der Schafottfront“ trug), sondern auch dafür, dass der noch zum Generalrichter aufgestiegene Ankläger beim Reichskriegsgericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit belangt werden sollte. Der stand jedoch als Informant längst unter dem Schutz des amerikanischen Geheimdienstes CIC und erklärte Ende April 1951 auf einer Versammlung der rechtsextremen „Sozialistischen Reichspartei“ in Lüneburg dreist, dass die Mitglieder der „Roten Kapelle“ eben „keine idealistischen Widerstandskämpfer, sondern gemeine Landesverräter und Spione gewesen“ seien, „schuldig an dem Tod von Tausenden deutscher Soldaten und Zivilisten“. Und überhaupt erlebte – wie die „Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945 bis 1968“ jüngst herausgearbeitet hat – der Gestapo-Mythos von der „Roten Kapelle“ Ende der 1940er Jahre eine Neuauflage und hielt sich bis weit in die 1950er Jahre hinein. Bei der Operation „Fadenkreuz“ standen 1953 immerhin 249 Personen unter Verdacht; zwei Jahre danach lagen gegen niemanden unter den ausgeforschten Zielpersonen gerichtsfeste Beweise vor, dass er ein Spion sei. Der spätere BND-Präsident Reinhard Gehlen übernahm aber die Wahnvorstellung eines Mitarbeiters, dass die „Rote Kapelle“ zu „einer weltumspannenden und den Westen in seinen Grundfesten gefährdenden Geheimorganisation ausgewachsen“ sei – ohne sich je Gedanken darüber zu machen, warum es nicht gelang, „diese Netze in Westdeutschland zu entlarven“ (so Gerhard Sälter). Die Gehlen-Truppe profilierte sich derart mit kommunistischer Unterwanderungshysterie, die dem offiziellen Bonn angesichts der Teilung Deutschlands und der Bedrohung durch den Ostblock nicht ungelegen kam.
Die Scholl/Schmorell-Gruppe war im Sommer 1942 zu ersten Schritten gegen das Regime entschlossen. Der Kern der Münchener Gruppe bestand aus fünf Studenten im Alter zwischen 21 und 25 Jahren: die Geschwister Hans und Sophie Scholl, Willi Graf, Christoph Propst und Alexander Schmorell. Als eine Art geistiger Mentor fungierte der 1893 geborene Musikwissenschaftler und Philosophie-Professor Kurt Huber. Die ersten vier Flugblätter, mit der Losung „Die weiße Rose“ unterzeichnet, verfassten die beiden auch an der Ostfront als Sanitätsfeldwebel eingesetzten Medizinstudenten Scholl und Schmorell, der perfekt russisch sprach, zwischen dem 27. Juni und dem 12. Juli 1942. Empört war die Gruppe über die Gewaltverbrechen gegenüber den Juden und Polen im Osten sowie über die deutsche Okkupationspolitik in den besetzten Ländern. Dazu hatten nicht zuletzt die BBC-Sendungen des „Deutschen Dienstes“ und vor allem Thomas Manns monatliche Radioansprache „Deutsche Hörer!“ beigetragen – obwohl im „Dritten Reich“ das Abhören von „Feindsendern“ mit dem Tode bestraft wurde. Im Mai 1942 prangerte der emigrierte Literaturnobelpreisträger die „wüste Überheblichkeit“ und das „Mordbrennertum“ der Nazis an und meinte zur Zukunft Deutschlands: „Man wird Deutschland ökonomisch helfen, aber militärische Macht einem Volk verweigern müssen, das sich so lange seine Vereinigung mit der Welt nur in der Form der Welt-Unterjochung vorstellen konnte.“ Das deutsche Volk habe sich „zu einer Reinigung seines sozialen Körpers“ aufzuraffen, „die gründlich sein muss und sich nicht auf die Ausbrennung der Nazipest beschränken darf. Sie muss die ganze Menschenschicht treffen, deren Macht und Habgier sich des Nazitums als Instrument bediente und die nie wieder imstande sein darf, das Deutschtum zur Geißel des Menschengeschlechtes zu machen.“
Die Thomas-Mann-Rede bildete wahrscheinlich einen ersten Anstoß, ebenso wie die von der BBC verbreiteten Ansprachen von Eden und anderen Londoner Politikern, so dass die Flugblätter der Scholl/Schmorell-Gruppe als „Antwort auf britische Ermunterungen“ aufgefasst werden können: Die Flugblätter sollten „mit Gleichgesinnten eine Solidarität herstellen, um Feigheit und Passivität des einzelnen zu überwinden“, aber auch im Ausland Zeugnis von einem „anderen Deutschland“ vor einer zu erwartenden Niederlage ablegen (so Christiane Moll). Im vierten (per Post versandten) Flugblatt, das vor allem Akademiker, aber auch Multiplikatoren wie Besitzer von Cafés und Lebensmittelgeschäften sowie Gastwirte mobilisieren sollte, hieß es „zur Beruhigung“, dass „die Adressen der Leser der Weißen Rose nirgendwo schriftlich niedergelegt sind. Die Adressen sind willkürlich Adressbüchern entnommen.“ Die Gruppe stehe „nicht im Solde einer ausländischen Macht“ und suche „eine Erneuerung des schwerverwundeten deutschen Geistes von Innen her zu erreichen. Dieser Wiedergeburt muss aber die klare Erkenntnis aller Schuld, die das deutsche Volk auf sich geladen hat, und ein rücksichtsloser Kampf gegen Hitler und seine allzu vielen Helfershelfer, Parteimitglieder, Quislinge usw. vorausgehen. Mit aller Brutalität muss die Kluft zwischen dem besseren Teil des Volkes und allem, was mit Nationalsozialismus zusammenhängt, aufgerissen werden.“
Vornehmlich mit der Zukunft Nachkriegs-Deutschlands beschäftigte sich 1942 die Moltke/Yorck-Gruppe, die sich selbst nicht „Kreisauer Kreis“, sondern manchmal „die Kreisauer“ nannte – nach dem Gut von Helmuth James Graf von Moltke, eines Urgroßneffen des preußisch-deutschen Generalfeldmarschalls, in Schlesien. Die aktivsten Mitglieder trafen sich meist in der Berliner Wohnung von Peter Graf Yorck von Wartenburg in der Hortensienstraße; der Jurist gehörte dem Reichskommissariat für Preisbildung und ab Mitte 1942 dem „Wirtschaftsstab Ost“ im Oberkommando der Wehrmacht an. Von den drei größeren Treffen in Kreisau fanden zwei – vom 22. bis 25. Mai und vom 16. bis 18. Oktober – im Jahr 1942 statt. An Pfingsten 1942 ging es um das Verhältnis von Staat und Kirche. In den „Grundsätzlichen Erklärungen“ vom 27. Mai hieß es: „Wir sehen im Christentum wertvollste Kräfte für die religiös-sittliche Erneuerung des Volkes, für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau des Abendlandes, für das friedliche Zusammenarbeiten der Völker.“ Bei der zweiten Zusammenkunft in größerer Runde ging es um den Staatsaufbau und um die Wirtschaftsorganisation. Eine konkrete Bestimmung der europapolitischen Ziele fand im Herbst 1942 in der wohl von Theodor Steltzer verfassten Denkschrift „Das europäische Verfassungsproblem“ ihren Niederschlag. Ein anderes Europa bedurfte „einer gemeinsamen Rückbesinnung auf die religiösen und geistigen Quellen des Abendlandes, verbunden mit der Bereitschaft, eine europäische politische und gesellschaftliche Neuordnung zu schaffen“ (so Günter Brakelmann); das bedeutete den Abschied von national-hegemonialen Ansprüchen und die Schaffung europäischer Verfassungsorgane mit den nötigen Regierungs- und Handlungsvollmachten.
Schon Hitlers Blitzsieg über Frankreich hatte Moltke, der Völkerrechtler und Kriegsverwaltungsrat in der Abteilung Ausland der Amtsgruppe Abwehr beim OKW, in einem Brief an Peter Yorck als „Triumph des Bösen“ empfunden: Bei einer Niederlage hätte Deutschland „alles Leid und Unglück“ auf sich nehmen können; stattdessen müsse nun ein „viel schlimmerer Sumpf von äußerem Glück, Wohlbehagen und Wohlstand“ durchwatet werden. In einem von der Widerstandsforschung oft zitierten Brief aus Stockholm an seinen englischen Freund Lionel Curtis schrieb Moltke später einmal: „Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder großen Plänen.“ Entscheidend sei, „wie das Bild des Menschen im Herzen unserer Mitbürger wiederhergestellt werden“ könne. Bis 1942 rechnete Moltke, der – im Gegensatz etwa zu Peter Yorck – ein Attentat auf Hitler strikt ablehnte, noch „mit dem Untergang des NS-Regimes von innen her, nicht erst als Resultat einer militärischen Niederlage“ (so Hans Mommsen).
Der maßgebliche Emissär zur Konspiration mit dem Ausland war 1942 Adam von Trott zu Solz. Seit seinem Studium in Oxford Anfang der 1930er Jahre war er bekannt mit Sir Stafford Cripps, einem führenden Labour-Politiker des linken Flügels. Über Hans-Bernd von Haeften, seinen Vorgesetzten in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amts, stieß der junge Diplomat zur Moltke/Yorck-Gruppe, die er liebevoll „Hortensienclub“ nannte. Ende April 1942 traf Trott sich in der Schweiz mit dem – ihm seit Ende der 1920er Jahre vertrauten – niederländischen Theologen Willem Visser't Hooft, der den Posten des Sekretärs des Vorbereitenden Ausschusses bekleidete, aus dem 1948 der Weltkirchenrat in Genf hervorging. Ihm übergab Trott eine Denkschrift für Cripps, deren Kernsatz lautete: „Die dringendste und unmittelbare Aufgabe, um die Katastrophe in Europa abzuwenden, ist der möglichst baldige Sturz des Regimes in Deutschland.“ Der sich auf den „christlichen Geist“ berufenden Widerstandsgruppe in Deutschland stünden als Hindernisse die Bedrohung durch die Sowjetunion, die Kontrolle des gesamten Lebens durch die Gestapo, „die völlige Unsicherheit der britischen und amerikanischen Haltung gegenüber einem Regimewechsel in Deutschland“ und die Furcht vor „Bewegungen wahllosen Hasses“ gegen alle Deutschen im Wege. Als konstruktives Ziel nannte er ein dezentralisiertes Deutschland in Verbindung mit einer Föderalisierung Europas. Cripps war von Trotts Denkschrift, die Visser't Hooft am 4. Mai 1942 in London übergab, „tief beeindruckt“, Premierminister Churchill fand sie „höchst ermutigend“. Jedoch war Eden nicht zu einer Reaktion auf das Trott-Memo zu bewegen. Er klammerte sich an die Anweisung Churchills von 1941, deutschen Friedensfühlern gegenüber „absolutes Schweigen“ zu bewahren. Daher war es „wohl kein Zufall“ (so Benigna von Krusenstjern), dass Eden am 8. Mai öffentlich lediglich sagte, deutschen Hitler-Gegnern könne man doch erst nach entsprechenden Taten trauen.
Am 31. Mai 1942 konferierten die Pastoren Hans Schönfeld und Dietrich Bonhoeffer in der Nähe von Stockholm heimlich mit dem Bischof von Chichester, George Bell. Sie nannten als führende Persönlichkeiten der Hitler-Gegner in Deutschland den früheren Generalstabschef Ludwig Beck und den Generalobersten außer Diensten Kurt von Hammerstein-Equord, neben früheren Gewerkschaftsvorsitzenden wie Wilhelm Leuschner und Jakob Kaiser. Beide äußerten den Wunsch nach einer öffentlichen Erklärung der Alliierten. Schönfeld versicherte in seinem „Statement by a German Pastor in Stockholm“, das Bell Anfang Juni dem Foreign Office überbrachte, es sei von deutscher Seite aus nach einem Regimewechsel nicht beabsichtigt, Russland zu erobern oder Teile als Kolonialgebiete zu erhalten; stattdessen werde in einer angestrebten europäischen Föderation nach Möglichkeiten der kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Moskau gesucht.
II. Reaktionen auf Hitlers Vernichtungskrieg
Dass sich Großbritannien im Sommer 1942 nicht konkreter zur Zukunft Deutschlands äußern wollte und konnte, lag neben bündnispolitischen Absprachen und weitreichenden internen Vorstellungen, die eine umfassende Sicherheit vor Nachkriegsdeutschland samt einer Zerschlagung Preußens gewährleisten sollten (nach Westen verschobenes Polen und so weiter), vor allem an der Atlantik-Charta. Unmittelbar nach deren Verkündung hatte Churchill am 26. August 1941 im Kabinett bereits als Hauptkriegsziel formuliert: Deutschland solle wirtschaftlich „fett“, militärisch aber „impotent“ gemacht werden. Auf dieser Linie bewegte sich fortan die Deutschland-Propaganda und die Deutschland-Planung. Das Foreign Office war auch nicht bereit, dem Beispiel Stalins vom 23. Februar 1942 zu folgen, der in seinen Reden zwischen den Nationalsozialisten und dem deutschen Volk/Staat beziehungsweise zwischen der „Hitler-Armee“ und „jeder organisierten militärischen Kraft“ in einem Nachkriegsdeutschland unterschied – was man in London als taktisches Manöver des Generalissimus gegenüber den Westmächten interpretierte.
Außerdem distanzierte sich das Foreign Office keineswegs von den populären Thesen eines Robert Vansittart. Für den früheren Außenamts-Staatssekretär kennzeichneten Neid, Selbstmitleid und Grausamkeit die „Deutschen im Plural“ (im Gegensatz zu einzelnen „guten Deutschen“), neben ihrer seit Generationen vorhandenen „Lust nach Weltherrschaft“. Vansittart räumte in seiner vielbeachteten Broschüre „Black Record. Germans Past and Present“ aber ein, dass das „Wesen eines Volkes geändert werden“ könne und man die Deutschen deshalb zwingen müsse, „das Buch ihrer falschen Götter wegzuwerfen“. Gegenüber dieser These von einer Kollektivschuld des deutschen Volkes zielten die Anweisungen für die britische Deutschland-Propaganda darauf ab, eine starke individuelle Verunsicherung bei den Deutschen herbeizuführen: Man verzichtete auf eine Gleichsetzung der NS-Führung und der Kriegsverbrecher mit der Masse der übrigen Deutschen, ohne allerdings eine ausdrückliche Differenzierung zwischen den beiden Kategorien vorzunehmen. Für diesen „Mittelweg“ sprach einerseits die Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung in Großbritannien, weil die Rufe nach Strafandrohung als Reaktion auf Nachrichten über die nationalsozialistische Besatzungs- und Judenpolitik immer lauter wurden, andererseits die britischen strategischen Flächenbombardements, also der unterschiedslose Bombenkrieg gegen „gute“ und „schlechte“ Deutsche. Eine solche Art der Luftkriegführung implizierte eine Kollektivschuld des Gegners; sie hätte vor der eigenen Bevölkerung nicht überzeugend gerechtfertigt werden können mit der Behauptung, die große Mehrheit der „Feinde“ bestünde doch aus guten Menschen, die nur von einer verbrecherischen Clique angeführt würden.
Als Bischof Bell Ende Juli Eden eindringlich um eine Regierungserklärung bat, dass Großbritannien nicht die Versklavung Nachkriegsdeutschlands beabsichtige und eben die Politik Vansittarts nicht teile, verwies der Außenminister auf die wachsende Verantwortung des deutschen Volkes für die „Verbrechen“. Darauf erwiderte der Bischof am 17. August, dass den unterdrückten Völkern die Befreiung durch die Alliierten zugesagt worden sei und gerade dies den Deutschen bisher vorenthalten werde (und als Kriegsziel bekanntlich auch bleiben sollte). Allerdings leuchtete es dem heftigen Vansittart-Kritiker ein, dass die oppositionellen Kreise ihren Teil beim Regime-Sturz leisten müssten, gerade im Hinblick auf die Verbrechen.
Hielten die Gräueltaten in den besetzten Gebieten also intern längst als Begründung für die ablehnende Haltung gegenüber den Regime-Gegnern in Deutschland her, so nahm Eden am 2. Dezember 1942 vor dem Unterhaus erstmals selbst öffentlich Gedankengänge Vansittarts auf und ließ damit – im Unterschied zum 8. Mai – keinen Zweifel mehr daran, dass London eventuelle Erwartungen in einen Umsturz mittlerweile aufgegeben hatte. In teilweise wörtlichen Anlehnungen an Vansittart untermauerte er dies mit Bemerkungen zum aggressiven Volkscharakter der Deutschen und bezeichnete die Entmilitarisierung Deutschlands „am Morgen des Sieges“ lediglich als Auftakt zu umfassenderen Maßnahmen: Es käme dann „einer großen Dummheit gleich, die Bildung einer nicht-nationalsozialistischen Regierung zuzulassen und anschließend sozusagen auf das Glück zu vertrauen. Die Vernichtung der alten falschen Götter wird ein langwieriges und mühsames Geschäft darstellen, aber es muss vollständig getätigt werden."
Am 17. Dezember erfolgte die feierliche Erklärung der Mächte der Anti-Hitler-Koalition einschließlich der Exilregierungen gegen die deutsche Politik der Ausrottung der Juden, um „diese bestialische Politik der kaltblütigen Vernichtung in der stärkst möglichen Form“ zu verdammen – was sich nach damaligem Rechtsverständnis auf Verbrechen auf alliiertem Gebiet und an Juden aus den besetzten Ländern bezog. Allerdings war es weder der amerikanischen noch der britischen Regierung gelungen, den Papst davon zu überzeugen, sich dem alliierten Protest anzuschließen. In seiner Weihnachtsansprache erwähnte Pius XII. lediglich die Opfer des Krieges, die Witwen, Waisen, die Heimatlosen, die Enteigneten und „Hunderttausende von Menschen, die ohne irgendeine eigene Schuld – manchmal nur wegen ihrer Nationalität oder Herkunft – dem Tod oder fortschreitendem Verfall bestimmt sind“. Offenbar stellte für ihn eine solche Äußerung eine klare und ausreichende Stellungnahme zu den NS-Verbrechen an den Juden dar, was die Kirchen-Oberen beider großen Konfessionen in Deutschland im eigenen Schweige- und Augen-schließen-Kurs vor den bestialischen Tatsachen nur bestätigen musste.
Solche alliierten Verlautbarungen standen bei einem Gipfeltreffen des deutschen Widerstandes am 8. Januar 1943 wohl nicht auf der Tagesordnung. Peter Yorck gelang es damals – gegen starke Bedenken Moltkes – die „Kreisauer“ und die Beck-Goerdeler-Gruppe an einen Tisch zu bringen. Die Spitze der „Honoratioren“ bildeten der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, der 1942 wieder wie in den Jahren zuvor verzweifelt nach einflussreichen Verbündeten unter hohen Militärs gesucht hatte, der frühere Generalstabschef Beck, der Ex-Botschafter Hassell sowie der preußische Finanzminister Johannes Popitz; ihnen schwebte außenpolitisch immer noch ein Staatenbund unter deutscher Führung, aber ohne territoriale Annexionen (wie bei Hitler) als „dritte Kraft“ zwischen der Seemacht Großbritannien und dem auf die Grenzen von 1914 reduzierten Russland vor.
In der Hortensienstraße wurde – bei „gelber Erbsensuppe und Schnittchen“ – heftig aneinander vorbeigeredet, bis Moltke der Geduldsfaden riss: „Ich schoss dann noch einen lange im Köcher behaltenen Giftpfeil ,Kerenski-Lösung‘ ab, der auch tüchtig und sichtbar saß – und damit endete die Sache dramatisch und glücklicherweise nicht platt.“ Mit dem Wort „Kerenski-Lösung“ verband Moltke den Vorwurf, dass die „Honoratioren“ die Führung des Staates nur austauschen und den Regierungswechsel nicht mit einschneidenden Reformen verbinden wollten, was wie 1917 in Russland während der Übergangsregierung von Alexander Kerenski zu einer Revolution führen und eine linke Diktatur an die Macht bringen könnte. Hassell hielt über das Treffen fest: Ein von Goerdeler „bewusst, aber erfolglos verschleierter Gegensatz zwischen diesem und den Jungen, vor allem auf sozialem Gebiet“ habe bestanden. Wenig sympathisch war ihm der „angelsächsisch-pazifistische“ Moltke. Der Bruch mit den „Goerdeler-Leuten“ an diesem 8. Januar beschäftigte Moltke übrigens noch in seinen allerletzten Lebenstagen. Ende Januar 1945, wenige Tage vor seiner Hinrichtung, schrieb er seiner Frau Freya, sogar Hitlers Gefolge und die Richter vom „Volksgerichtshof“ hätten doch begriffen, dass in Kreisau „die Axt an die Wurzel“ des Nationalsozialismus gelegt und „nicht nur“ wie bei Goerdeler „eine gewisse Fassadenänderung vorgenommen werden sollte“.
Als die Stalingrad-Armee ihrem Untergang entgegenhungerte und entgegenfror, suchte Stauffenberg am 26. Januar 1943 den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Don, Erich von Manstein, in Taganrog auf. Den offiziellen Anlass bildeten Vorschläge zur Änderung in der Spitzengliederung der Wehrmacht: Die einen wollten dem „Führer“ in seiner Doppelfunktion als Oberbefehlshaber der Wehrmacht und des Heeres die Schande der Stalingrad-Niederlage ersparen und das „Dritte Reich“ vor weiteren Führungsfehlern bewahren, die anderen wollten eine mächtige Figur als strategisches Korrektiv neben dem „Führer“ installieren. Als große Lösung war an die Ernennung eines gemeinsamen Generalstabschefs für die gesamte Wehrmacht gedacht, als kleine Lösung wenigstens an die Einsetzung eines Oberbefehlshabers Ost. Manstein stand für solche Posten nicht zur Verfügung. Als sich Stauffenberg kritisch über die Stalingrad-Schlacht äußerte, blockte der Feldmarschall ab und soll – was er nach dem Krieg bestritt – dem Gast gedroht haben: „Wenn Sie nicht sofort mit diesen Sachen aufhören, lasse ich Sie sofort verhaften!“ Damit scheiterte Stauffenbergs Absicht, hohe Generäle für einen Putsch zu gewinnen. Enttäuscht urteilte er: „Die Kerle haben ja die Hosen voll oder Stroh im Kopf, sie wollen nicht.“
Am nächsten Tag wurde die Casablanca-Erklärung, die Roosevelt und Churchill vereinbart hatten, von den Alliierten veröffentlicht; am 3. Februar erfuhren die Deutschen durch das Oberkommando der Wehrmacht: „Der Kampf um Stalingrad ist zu Ende.“ Ein großes Entsetzen machte sich in Deutschland breit, das im letzten Flugblatt der Scholl/Schmorell-Gruppe seinen Widerhall fand und an dem Professor Huber verstärkt mitarbeitete. Dessen Formulierungsvorschlag, „dass unsere herrliche Wehrmacht gerettet werden müsste“, strichen Schmorell und Scholl aus der Endfassung heraus, da sie „nicht mehr auf die Kompetenz der Wehrmacht setzten, von der sie sich noch im Sommer 1942 die Befreiung vom Nationalsozialismus erhofft hatten“ (so Christiane Moll). Im Flugblatt an die Kommilitoninnen und Kommilitonen hieß es über den „Untergang der Männer von Stalingrad“ und die dilettantische Kriegführung Hitlers: „Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung unserer deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der ganzen deutschen Jugend fordern wir von dem Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen, zurück, um das er uns in erbärmlichster Weise betrogen hat.“ Und über „Hitler und seine Genossen“ war zu lesen: „Auch dem dümmsten Deutschen hat das furchtbare Blutbad die Augen geöffnet, das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich neu anrichten. Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, seine Peiniger zerschmettert und ein neues, geistiges Europa aufrichtet.“
Schmorell, Scholl und Willi Graf pinselten in der Nacht vom 15./16. Februar 1943 Parolen wie „Nieder mit Hitler“ und „Massenmörder Hitler“ mit durchgestrichenem Hakenkreuz in München an öffentliche Gebäude; außerdem wurden die versandfertigen 800 bis 1200 Flugblätter zu verschiedenen Postämtern gebracht. Am 18. Februar – ausgerechnet an dem Tag, als Goebbels seine berüchtigte Sportpalast-Rede zum „totalen Krieg“ hielt – fand die berühmte Aktion in der Münchener Universität statt: Der Flugblatt-Abwurf der Geschwister Scholl war nach neueren Forschungen „wohl eine spontane Handlung, vermutlich durch eine extreme körperliche und seelische Anspannung verursacht, die zu einer euphorisch tollkühnen Stimmung führte und zugleich den Blick für Risiken verstellte“; demgegenüber bestehen an der früheren Interpretation, den Abwurf „als ein bewusstes, von vornherein geplantes Selbstopfer zu deuten, dass bei den Münchener Studenten ein Fanal des Widerstandes entzünden sollte“, starke Zweifel (so Christiane Moll).
Im Zusammenhang mit der „Weißen Rose" standen in acht Prozessen 49 Angeklagte vor dem „Volksgerichtshof“, sechs wurden hingerichtet, neun weitere wurden vor Kriegsende ermordet oder wählten den Freitod oder starben an den Haftbedingungen; überlebende Mitwisser waren zirka 60 Personen (so Hartmut Mehringer). Exemplare des letzten Flugblattes erreichten Großbritannien auf dem Weg über Schweden, so dass die Royal Air Force neben den zahllosen Bomben auf deutsche Großstädte im Frühjahr 1943 auch Hunderttausende in London vervielfältigte Flugblätter über Deutschland abwarf, so dass „die Botschaft der ,Weißen Rose‘ nicht ungelesen“ blieb (so Richard J. Evans). Am 27. Juni 1943 würdigte Thomas Mann in seiner BBC-Sendung „Deutsche Hörer!“ die letzte Flugschrift und den Aufstand der Studenten, „die vieles gutmachen, was in gewissen unseligen Jahren an deutschen Universitäten gegen den Geist deutscher Freiheit gesündigt worden ist. Ja, sie war kummervoll, diese Anfälligkeit der deutschen Jugend – gerade der Jugend – für die nationalsozialistische Lügenrevolution. Jetzt sind ihre Augen geöffnet, und sie legen das junge Haupt auf den Block für ihre Erkenntnis und für Deutschlands Ehre – nachdem sie vor Gericht dem Nazi-Präsidenten ins Gesicht gesagt: ‚Bald werden Sie hier stehen, wo ich jetzt stehe‘; nachdem sie im Augenblick des Todes bezeugt: ‚Ein neuer Glaube dämmert an Freiheit und Ehre!‘ Brave, herrliche junge Leute! Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein.“
Resümee
Nicht nur das widerständige Vorpreschen der „Weißen Rose“, sondern auch die anderen mutigen – meist mit einem grausamen Tod bezahlten – Aktionen von Hitler-Gegnern 1942/43 verdienen in hohem Maße unser Gedenken und unseren Respekt, trotz der Vergeblichkeit der Bemühungen um einen Regimesturz eben vor allem als ein „Widerstand ohne Volk“ (so Markus Roth), das nämlich nach wie vor zum allergrößten Teil hinter Hitler stand und fest zu ihm hielt. Dass die in deutschem Namen und von unzähligen deutschen Händen begangenen Verbrechen vor 75 Jahren für die Herbert-Baum-Gruppe (Arbeiterwiderstand), die Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe (Intellektuellenwiderstand) und die Scholl/Schmorell-Gruppe (Studentenwiderstand) ein, wenn nicht sogar das entscheidende Motiv zum Handeln war, steht außer Zweifel. Im Vergleich dazu blieb den „Kreisauern“ samt Emissären zur Konspiration mit dem Ausland und den „Honoratioren“ – bei aller individuellen und scharfen Verurteilung der NS-Verbrechen durch Bonhoeffer, Hassell, Goerdeler, Moltke und andere – offensichtlich noch verborgen, zu welcher Verhärtung der alliierten Haltung die immer konkreteren Nachrichten über den nationalsozialistischen Deportationswahn und Massenmord an den Juden im Laufe des Jahres 1942 führten. Dazu passte eben aus Londoner Sicht keine öffentliche oder auch nur diplomatisch-diskrete Ermutigung der Hitler-Gegner in Deutschland mehr. Außerdem hatte sich Großbritannien am 26. Mai 1942 in Artikel II des Bündnisvertrages mit der Sowjetunion verpflichtet, „in keinerlei Verhandlungen mit der Hitler-Regierung oder irgendeiner anderen Regierung in Deutschland einzutreten, die nicht klar auf alle aggressiven Absichten verzichtet, und über keinen Waffenstillstand oder Friedensvertrag mit Deutschland oder irgendeinem anderen mit ihm bei den Angriffsakten in Europa verbündeten Staat zu verhandeln oder einen solchen abzuschließen, es sei denn mit gegenseitiger Zustimmung“. Damit war deutschen Regime-Gegnern jede Möglichkeit genommen, nach einem Staatsstreich die Anti-Hitler-Koalition durch einen Separatfrieden auseinanderzudividieren, und daneben der Weg zur Casablanca-Formel in aller Deutlichkeit vorgezeichnet.
Dennoch gedachten die Emissäre zur Konspiration mit dem Ausland weiterhin, zunächst einmal verhandeln zu können, um konkrete Zusagen an eine Nach-Hitler-Regierung zu erhalten – meist sogar mit einem antisowjetischen Zungenschlag. Wie oppositionelle Kreise vor dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien Gegenleistungen für die Bewahrung des Friedens einzuklagen versucht hatten, so beabsichtigten sie während des Weltenbrandes, Vorleistungen für einen Regime-Sturz und die damit verbundene vorzeitige Beendigung des Krieges zu erhalten.
Die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation schuf auf alliierter Seite günstigste Planungsvoraussetzungen für die Zukunft und erlaubte die nachhaltigste Durchsetzung hochgesteckter Ziele, weil sie davon entband, irgendwelche Interessen der Feindmächte oder der innerdeutschen Opposition zu berücksichtigen, die ebenfalls die totale Niederlage und Entwaffnung Deutschlands zu akzeptieren hatten. Dass sich dies bei der Rekrutierung von hohen Militärs für den deutschen Widerstand lähmend ausgewirkt habe, ist nach 1945 oft (und für die Wehrmachtführung exkulpierend) behauptet worden. Dabei hatte Ulrich von Hassell doch Recht mit seiner These, dass sich mit gegnerischen Mächten im Kriege nur aus einer Position der Stärke heraus verhandeln ließe und daher der Sturz Hitlers keinen Aufschub vertrage. Ende Januar 1943 notierte sich Hassell: Wenn die Generäle „den Ehrgeiz hatten, mit ihrem Eingreifen so lange zu warten, bis klar ersichtlich sei, dass uns der Gefreite in den Abgrund führt, so hat sich dieser ihr Traum erfüllt“. Im Anschluss daran formulierte der bedeutende Widerstandshistoriker Klemens von Klemperer einmal treffend, dass die Generäle „vor Casablanca allzu lange geschwankt“ hatten: „So kann man nicht behaupten, dass die Konferenz ein entscheidender Faktor für ihre anhaltende Treue zum ‚Führer' war.“ Zu oft hätten sich die Briten bei Gesprächen mit den Emissären des Widerstandes „auf die Notwendigkeit hinweisen lassen müssen, die Generäle zu besänftigen“.
Überhaupt ist in der – sich meist aus der Verantwortung windenden oder herauserzählenden – Rückschau vieler militärischer Akteure auch dem Problem des Fahneneides zu viel Bedeutung beigemessen worden, besonders in der frühen Bundeswehr mit der verlogenen, aber nach außen hin geschickt getarnten Selbstzufriedenheit und Überheblichkeit einstiger „Eidhalter“ gegenüber den sogenannten „Eidbrechern“. Seit dem Tode des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 schworen die deutschen Soldaten auf Vorschlag des damaligen Reichskriegsministers Werner von Blomberg nicht mehr „Volk und Vaterland“ Treue und „redlichen“ Dienst, sondern dem „Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler“, ihren „unbedingten Gehorsam“. Dieses Eides sei der deutsche Soldat „ledig“, und zwar auf Grund der nationalen Pflicht, dem „deutschen Vaterland gegen dessen Verderber die Treue zu halten“ – stellten die beiden Diplomaten Hasso von Etzdorf (damals der Vertreter des Auswärtigen Amts beim Oberkommando des Heeres) und Erich Kordt (Chef des Ministerbüros im Auswärtigen Amt) schon Mitte Oktober 1939 in ihrer unter höchsten Offizieren kursierenden und „zur Tat“, also zum Hochverrat anspornenden Denkschrift „Das drohende Unheil“ unmissverständlich fest. Die Autoren wiesen auf die „relative Unpopularität“ einer Aktion gegen Hitler hin, die „mit dem nötigen Maß an Zivilcourage hingenommen werden“ müsse; anschließend habe man dem deutschen Volk die Augen über die Ziele des „Besessenen“ zu öffnen und werde sicherlich auf Verständnis stoßen. Obwohl Generalstabschef Halder im November die angelaufenen Staatsstreichplanungen stoppte, gab es im „Sitzkrieg“-Winter 1939/40 noch eine „Orgie von Friedensfühlern“ (so Peter W. Ludlow). Mit der deutschen Besetzung Dänemarks und Norwegens Anfang April und mit dem Beginn des Westfeldzuges am 10. Mai 1940 hatten die Hitler-Gegner in Deutschland ihre Rolle in der britischen Politik eigentlich ausgespielt, zumal nach dem Wechsel von Neville Chamberlain zu Winston Churchill ein Mann an der Spitze der Londoner Regierung stand, der eindeutig eine Niederlage Deutschlands anstrebte und den Krieg als persönliche Herausforderung und Bewährungsprobe begriff.
Was die Anti-Hitler-Fronde nach Casablanca und Stalingrad von hohen Generälen zu erwarten hatte, vertraute hellsichtig am 20. Februar 1943 der Hauptmann der Reserve Hermann Kaiser, von Beruf Studienrat und im Bendlerblock als Kriegstagebuchführer eingesetzt, seinem privaten Tagebuch an: „Der eine will handeln, wenn er Befehle erhält. Der andere befehlen, wenn gehandelt ist.“ Damit sprach er eine Konstante in allen weiteren Umsturzplanungen an. Im Juli 1944 konnte schließlich Adam von Trott mit seiner außenpolitischen Expertise, die Alliierten seien verhandlungsbereit (ohne dafür während seiner Geheimmissionen irgendwelche Anhaltspunkte bekommen zu haben, lediglich in der Hoffnung auf sich vielleicht von selbst verbessernde Verhandlungspositionen nach einer Beseitigung Hitlers und nach einem geglückten Umsturz), die Verschwörer um Oberst Claus von Stauffenberg und Generalmajor Henning von Tresckow in der Grundannahme bestätigen, dass es nur noch auf den Versuch der befreienden Tat (auf die von Anthony Eden geforderten „aktiven Schritte“) ankam, nicht mehr auf das Gelingen.