Predigt Plötzensee

Ökumenischer Gottesdienst am 20. Juli 2023 um 9 Uhr in der Gedenkstätte Plötzensee anlässlich des 79. Jahrestages des 20. Juli 1944


- Pater Klaus Mertes SJ -


Lesungstext: 1 Joh 4,7-13



  1. Sühne


„Es sollen andere einmal besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“ (Alfred Delp) Das Wörtchen „weil“ ist entscheidend. Delp versteht seine Hinrichtung als Beitrag für eine bessere Zukunft seines Landes. Die Hinrichtung an diesem Ort ist für ihn nicht Ausdruck bloßer Ohnmacht eines Gewaltopfers, Opfer im Sinne von victim. Er versteht sie vielmehr als sacrifice für einen höheren Zweck. „Geopfert, nicht erschlagen“, schreibt er an anderer Stelle. Das ist ein entscheidender Unterschied. Diesen Unterschied zuzulassen ist mit innerer Aktivität, mit „Mühe“ verbunden. Delp schreibt: „Ich will mir Mühe geben, als fruchtbarer Same in die Scholle zu fallen für euch alle und für dies Land und Volk, dem ich dienen und helfen wollte.“ Die Hinrichtung als solche, das bloße Erschlagen- oder Erhängtwerden ist es nicht, das eine Zukunftsperspektive für „Land und Volk“ eröffnen soll. Es kommt eine „Mühe“ hinzu. Die Hinrichtung ist Konsequenz der Mühe des Widerstandes, und auch der Mühe, die Konsequenz anzunehmen bis in den Tod hinein.


Der Martyriumsgedanke, der hier anklingt, kann missverstanden werden. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Hans Joachim Schellnhuber, ehemaliger Leiter des Potsdam-Institutes für Klimafolgenforschung, schrieb im Herbst 2021 einen Offenen Brief an die „lieben jungen Menschen im Klimastreik“, jener Hungerstreik, der beinahe tödlich verlaufen wäre, und aus dem die Gruppierung Letzte Generation entstanden ist. Schellnhuber bestätigt den jungen Menschen aus wissenschaftlicher Perspektive die Berechtigung ihrer Sorgen aus, schließt dann aber mit den Sätzen: „Neben der Arroganz der Macht und der Arroganz des Wissens gibt es auch eine Arroganz des selbst auferlegten Martyriums. Wir müssen aber alle Arten von Arroganz ablegen, wenn wir die Welt noch gemeinsam retten wollen.“ Das Martyrium der Ermordeten des Widerstands war nicht selbst auferlegt, ebenso wie es das Martyrium Christi nicht war: Den Mord hatten und haben die Mörder zu verantworten, zu 100 %.


„Es sollen andere einmal besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“ Delp war keineswegs allein mit der Vorstellung, dass der Widerstand sühnende, ja heilende Wirkung für Land und Volk haben sollte. Im letzten Flugblatt der Weißen Rose steht. „Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, seine Peiniger zerschmettert und ein neues, geistiges Europa aufrichtet.“  Oder Emmi Bonhoeffer. Sie bezeugt für ihren Mann Klaus, den Bruder von Dietrich: „Der Gedanke, das, wofür der Name Auschwitz steht, kann – wenn überhaupt je – nur durch das Blut derer gesühnt werden, die das nicht gewollt haben, war ihm (Klaus Bonhoeffer  - KM) nicht fremd. Sühne und Versöhnung gehören zusammen.“ Oder Henning von Tresckow zu seinem Vertrauten Fabian von Schlabrendorff: „Wir hoffen, dass Gott auch einmal Deutschland um unseres Opfers willen gnädig sein wird. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott Deutschland um unseretwillen nicht vernichten wird.“ Zusammenfassend vermerkte Eberhard Bethge einige Jahre später: „Wenn die Männer und Frauen, an die wir heute denken, mit ihrem schuldbeladenen Opfertod nicht ein Zeichen sind für einen Riss in der Kette der Schuld und für die Welt der Auferstehung – wer ist es dann?“ (Rede am 20.7.1974)



  1. Versöhnung


Das Motiv der Sühne in Hinblick auf Versöhnung ist für mich selten so eindrucksvoll beantwortet worden wie von Fritz Stern, am 20. Juli 2010 im Bendlerblock. Er blickte in seiner Rede zurück auf die erste Gedenkveranstaltung  zum 20. Juli 1944 im Jahre 1954, zu der er als deutschstämmiger Jude und Überlebender des Holocaust eingeladen war. „Bundeskanzler Adenauer war anwesend – aber es war die Sicht der Witwen in Schmerz und Trauer, der Anblick der vaterlosen Kinder, das Wahrnehmen ihrer Tränen, die ich sah oder ahnte – das hat mich zutiefst betroffen. Etwas änderte sich in mir, Gefühle vorerst, Gedanken später, die ich aber am nächsten Tag in einem Brief festhielt. Die Opfer waren lebensnah, die Tragik spürbar. Eine innere Scham überkam mich, die Scham über meine hasserfüllte Abscheu vor allem Deutschen, das in mir seit meiner Kindheit nistete. In jenem Brief schrieb ich, dass ich ein Gefühl der Befreiung spürte, ein Bröckeln des unreflektierten Hasses des Kindes, des Ausgeschlossenen, dessen Eltern aus ihrer Heimat vertrieben wurden … Jene Stunde im Bendlerblock am 20. Juli 1954 hat mein Leben begleitet, hat mir den Weg zu neuen Beziehungen zur deutschen Gegenwart ermöglicht.“


Widerstand hat die Tür zu einer „neuen Beziehung“ geöffnet, zu einem Prozess der Versöhnung. Das ist das Geschenk des Widerstandes an uns heute, die Nachkommenden. Es ist das Geschenk an künftige Generationen auch derer, die sich heute gegen Diktatur, Terror und Angriffskrieg im jeweils eigenen Land wenden, mit höchsten Risiken für sich selbst. „Blut, das vergossen wird zur Vergebung der Sünden“, um es mit den Worten des Einsetzungsberichtes zu sagen. Nicht beliebiges Blut, nicht das sinnlos vergossene Blut aus Hass, Paranoia und Unversöhnlichkeit, sondern gerade das Blut derer, die in den Widerstand gehen, nicht zuletzt auch deswegen, um Brücken für möglichen Frieden in der Zukunft zu schlagen.



  1. Glauben


Lassen Sie mich noch einen Gedanken hinzufügen, weil wir hier einen Gottesdienst feiern, genauer: Die Eucharistie, das Abendmahl, die Vergegenwärtigung des sühnenden Opfertodes Christi, den ich auch als einen Tod aus der Haltung und der Praxis des Widerstandes verstehe. Stern idealisiert den Widerstand nicht. „Der Versuch der Befreiung kam spät; und die Ideale entsprachen nicht unseren Idealen.“ Nicht alle, aber viele von den Männern und Frauen des Widerstandes lebten „im Schatten dramatisch-traumatischer Geschichte“, waren „Gefangene unbewusster Ressentiments“. Manche von ihnen waren anfangs für die Versprechungen Hitlers anfällig gewesen. „Georg Elser, … kleine Gruppen wie die Geschwister Scholl oder Arvid Harnacks Rote Kapelle“ oder auch „Einzelne wie Moltke, Kleist-Schmenzin und Thomas Mann begriffen früher den Verbrechenscharakter des Regimes.“ Andere nicht. Aber gerade deswegen darf der Widerstand als Aufstand des Gewissens bezeichnet werden: „Das Gewissen ist eine moralische Instanz, fern von politischer Gebundenheit … Es erlaubt Lässigkeit, ist beschwichtigbar, zuerst kommen Gewissensbisse – bis es schließlich zu einer dem Religiösen Ähnlichen Überzeugung kommt.“ Man könnte auch sagen: Es ist ein Weg bis dahin, die Stimme des Gewissens zu vernehmen.


Auch Delp musste lernen, Lässigkeit zu überwinden, Beschwichtigungsstrategien bei sich selbst aufzudecken und Gewissensbisse zuzulassen. Wer die Abschiedstexte und Abschiedsbriefe der Hingerichteten liest, der sieht: Sie wussten, dass nicht nur die Verbrecher, sondern auch sie selbst sich vor einem höheren Gericht würden verantworten müssen. Ihre Sühne war nicht nur Sühne für die Sünden anderer im Bewusstsein der eigenen Gerechtigkeit, sondern auch für die eigenen Verstrickungen. Es gehört eben zusammen: Das Wissen darum, dass es ein Gericht gibt, vor dem auch ich mich zu verantworten habe, und zugleich ein Wissen darum, dass eine Tat möglich bleibt, ein Beitrag, durch den sich eine Tür für eine bessere Zukunft öffnen kann – eine selbstlose Tat, die nicht dem Zweck der Selbstrechtfertigung dient. Dass der Widerstand Jahre später das Herz eines Fritz Stern oder auch anderer rühren würde, hatten sie nicht mehr in der Hand. Sie mussten es ganz aus der Hand geben. Sie durften hoffen, sie konnten nicht mehr rechnen und planen. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“, das waren die letzten Worte Jesu. Versöhnung und Frieden sind ein Geschenk des Himmels.


„Wer nicht liebt, der hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe.“ Wir beten für alle, die in Hassgefühlen stecken bleiben und in Echoräumen gegenseitiger Bestätigung gefangen sind. Wir beten für alle, die gleichgültig geworden sind gegenüber dem Leid, das sie sehen und das sie verursachen: Berühre ihre Herzen. Gott unser Vater – wir bitten Dich erhöre uns.


*„Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat.“ Wir beten um Befreiung von Selbstgerechtigkeit, um Aufmerksamkeit für die Stimme des Gewissens und um tiefes Vertrauen in die Liebe Gottes bis in unsere Todesstunde hinein. Gott unser Vater – wir bitten Dich erhöre uns.


*„Gott hat uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühnopfer für unsere Sünden.“ Wir danken für die Männer und Frauen des Widerstandes, die durch ihr Zeugnis und ihr Lebensopfer Brücken der Versöhnung gebaut haben. Wir bitten für Menschen, die heute Gräben überwinden, Brücken zwischen verfeindeten Lagern bauen, Propaganda und Lüge durchschauen und Zeugnis ablegen für Gerechtigkeit und Frieden. Stärke und begleite sie mit deiner Kraft. Gott unser Vater – wir bitten Dich erhöre uns.


*Nicht nur die Christenheit ist in unterschiedlichen Konfessionen getrennt. Auch in den einzelnen Konfessionen gibt es Lagerbildungen unter Christgläubigen, die nicht mehr miteinander sprechen können. Wir bitten im Gedenken an die gemeinsame Lebenshingabe von so verschiedenen Männern und Frauen in der Zeit der Nazi-Diktatur: Führe auch heute zusammen, was wir getrennt haben, und lass uns in deinem Reich versöhnt zusammenfinden. Gott unser Vater – wir bitten Dich erhöre uns.


*„Er hat uns von seinem Geist gegeben.“ Wir beten für alle Menschen, die Verantwortung tragen in Politik und Gesellschaft, in Kirchen, Gemeinden, Schulen und Familien. Wir beten für alle, die sich engagieren und einen Beitrag leisten wollen für die Bewahrung der Schöpfung, und für Frieden zwischen den Völkern. Sende Deinen Geist, den Geist der Unterscheidung, der hilft, deine Stimme unter den vielen Stimmen zu erkennen und deinen Willen auch zu tun. Gott unser Vater – wir bitten dich erhöre uns.